Blick über die Seine bei Sonnenuntergang

Ei-enn-di-ssie

Der einzige Erfolg, den die internationale Gemeinschaft bei ihren Verhandlungen bisher erzielt hat, ist die sogenannte Zwei-Grad-Grenze (und es ist eine Grenze, kein Ziel). Im mexikanischen Cancún, im Jahr 2010, haben die Staaten beschlossen, dass eine Erwärmung bis 2100 gegenüber der vorindustriellen Zeit um diesen Wert gefährlichen Klimawandel darstellt. Und am Anfang des ganzen Prozesses, 1992 in Rio de Janeiro, haben sie sich gegenseitig versprochen, dass sie einen gefährlichen Klimawandel verhindern wollen. Voilá. Voilá?

Aus diesem Beitrag zum Start des Pariser Klimagipfels kann und will ich meine Meinung nicht heraushalten. Ich bemühe mich, die verschiedenen Auswertungen der freiwilligen Beiträge, die die Staaten der Welt bei der COP21 vortragen wollen, einigermaßen neutral zu analysieren, stufe diesen Text aber trotzdem als Kommentar ein.

Weiteren Fortschritt hat es bisher nicht gegeben, aber für Paris erwarten ihn nun alle. Die Konferenz verfolgt einen anderen Ansatz als frühere Gipfel. Die Staaten versuchen nicht mehr, sich allesamt auf eine allgemeine Reduzierung der Treibhausgas-Emissionen (und auf eine Definition von Gerechtigkeit) zu einigen. Jeder einzelnes Land – und die EU als Gemeinschaft – legt einen Plan vor, wie es bis 2025 oder 2030 den Ausstoß bremsen will. Diese Pläne heißen INDC (Intended Nationally Determined Contributions). Es hat bereits etliche Bewertungen gegeben, was sie bewirken könnten, die zwischen mäßiger Erleichterung und vorsichtigem Optimismus schwanken. Extreme Äußerung der Zufriedenheit oder der Enttäuschung sind ausgeblieben. Klar ist, dass die Vorschläge nicht reichen, um die Erwärmung tatsächlich auf zwei Grad zu begrenzen. Aber wenn sich die Staaten tatsächlich an ihre Versprechen halten, dann laufen wir auch nicht mehr auf eine Vier-Grad-Welt zu.

Insofern ist vor Paris schon etwas Wichtiges geschehen: die zwangsläufige Erwärmung erscheint gebrochen, das sogenannte Business-as-usual (BAU) ist vom Tisch. Eine häufig verwendete Formulierung lautet daher, die INDCs und die Konferenz in Paris bauten eine Brücke zur Zwei-Grad-Grenze.

Es ist allerdings unklar, wie lang diese Brücke sein muss. Die meist gehandelte Zahl, was die INDCs bringen, lautet inzwischen 2,7 Grad Erwärmung. Sie stammt unter anderem von Christiana Figueres, der Leiterin des UN-Klimasekretariats UNFCCC in Bonn. Das gilt vielen als offizielle Stellungnahme, aber Figueres verweist im nächsten Absatz der Pressemitteilung darauf, dass die Zahl nicht von ihrer Organisation stammt, sondern von einer Reihe anderer Gruppen. Außerdem lautet das vollständige Zitat (meine Hervorhebung): „The INDCs have the capability of limiting the forecast temperature rise to around 2.7 degrees Celsius by 2100, by no means enough but a lot lower than the estimated four, five, or more degrees of warming projected by many prior to the INDCs.“ Es hängt also entscheidend davon ab, wie die Staaten ihre Politik in zehn bis 15 Jahren weiter entwickeln, das sagt Figueres auch deutlich. Und was das meint ist: wie die Staaten ihre Politik danach verschärfen.

Auf diesen Zusatz hat sehr eindeutig die amerikanische Umweltorganisation Climate Interactive hingewiesen. Demnach bringen die vorliegenden INDC die Welt nur auf den Kurs zu einer 3,5-Grad-Erwärmung bis 2100. Und das ist der wahrscheinlichste Wert: Wenn man sich eine Gaußverteilung um die 3,5 herum denkt, dann reicht nur ihr unterster Zipfel bis 2,0 Grad, aber der oberste dafür bis 4,6 Grad. Nur wenn die Staaten nach Ablauf der Pariser Vereinbarung deutlich nachlegen, wären überhaupt 2,7 Grad zu schaffen.

VergleichINDC-Wirkung_cWRI
Ein Vergleich, was verschiedene Organisationen aus den bisher vorgelegten INDCs machen. Quelle: World Resources Institute

Das sehen nicht alle Beobachter so. Das World Resources Institute hat mehrere Auswertungen auf seiner Webseite verglichen. Mit den Angaben in den Plänen zu rechnen ist nicht ganz einfach, weil viele Versprechen an Bedingungen gekoppelt sind: Entwicklungsländer fühlen sich an ihre Pläne nur gebunden, wenn die Industriestaaten ihren Beitrag leisten; manche Nationen machen die Emissionsreduktion auch von ihrem Wirtschaftswachstum abhängig. Oft wird der eigenen Beitrag als Abweichung vom Business-as-usual dargestellt.

Dem WRI zufolge ist 3,5 Grad einer der höheren Werte, aber er ragt auch nicht auffällig aus dem Feld heraus. Andererseits ist 2,7 Grad die niedrigste Zahl (wenn wir mal nur die roten Balken berücksichtigen). Ist es also ein gute Idee, diese ins Zentrum der Berichte zu stellen? Um es mal ganz offen und subjektiv zu sagen: Nein – ich finde das gefährlich.

Hier kommt ein psychologischer Effekt hinzu, mit dem zum Beispiel Supermärkte den Umsatz bestimmter Produkte steigern. Sie stellen neben den Wein oder die Nudeln oder die Butter eine billigere und eine teurere Alternaive: Wer keine Ahnung oder keine Vorliebe hat, greift dann meist zu dem mittleren Produkt, und fühlt sich einigermaßen gut, weil er ja eine Abwägung getroffen und die Extreme vermieden hat.

Dieser Mechanismus spielt auch in der Klimadebatte eine Rolle. Er führt zum Beispiel dazu, dass man 2,7 Grad, oder zur Not auch die 3,5 Grad, für einen brauchbaren Kompromiss zwischen den oft als unerreichbar bezeichneten zwei und dem Schreckgespenst mit vier bis fünf Grad Erwärmung hält. Oder dass man sich von den vier IPCC-Leitszenarien eines der mittleren aussucht, die beide auch über die Zwei-Grad-Grenze hinausführen. Diese Szenarien zeichnen die möglichen Entwicklung der Treibhausgase auf und haben merkwürdige Namen. Sie beginnen mit RCP (für Representative Concentration Pathway) und dann folgt eine Zahl: 2.6, 4.5, 6.0 oder 8.5. Sie beschreibt den sogenannten Strahlungsantrieb in Watt pro Quadratmeter, also die zusätzliche Heizleistung in der Lufthülle. Nur das RCP2.6 führt laut Weltklimarat einigermaßen sicher in eine Zukunft, in der die Staaten die Zwei-Grad-Grenze nicht reißen. RCP8.5 ist Business-as-usual, also praktisch überhaupt kein Klimaschutz. Der Mittelweg ist hier genauso fehl am Platz wie beim Urteil über die INDCs.

Allerdings hat vor Paris nicht zum ersten Mal die Debatte begonnen, ob die Zwei-Grad-Grenze nicht schon eine Illusion sei. So stellt es zum Beispiel der New-York-Times-Kolumnist Andrew Revkin dar und ähnlich steht es in Nature. Der Tenor ist, dass viele Szenarien, die die Erwärmung unter zwei Grad halten, negative Emissionen vorsehen, sprich es wird CO2 aktiv aus der Atmosphäre entnommen. Das gängigste – aber unerprobte – Verfahren heißt BECCS: Bioenergy with Carbon Capture and Sequestration. Dazu würde sehr viel Energie aus Holz oder Riesen-Chinaschilf oder Purgiernüssen oder anderen Pflanzen gewonnen, aber bei der Verbrennung das Kohlendioxid aufgefangen und unter der Erde verpresst. Da die Pflanzen zuvor CO2 aus der Atmosphäre entnommen hätten, das dann nicht zurückkehrt, hätte man negative Emissionen.

CCS hat nicht den besten Ruf, um es vorsichtig zu beschreiben. Vielleicht würde das ein wenig besser aufgenommen, wenn das CO2 aus Pflanzen statt aus Kohle stammt, aber sehr wahrscheinlich ist das angesichts des erbitterten Widerstandes nicht. Dennoch nennen zumindest zehn Staaten in ihren INDCs die Technik, darunter China, Kanada, Saudi-Arabien und Norwegen und Malawi.

In der Tat kann man bei den Szenarien – oder den INDCs, mindestens denen aus demokratisch regierten Staaten – Bedenken über die politische Durchsetzbarkeit haben. Aber erstens gibt es auch andere Wege unter die Zwei-Grad-Grenze, und zweitens ist das doch kein Glaubwürdigkeitsproblem für die Klimaforschung, wie der Autor in Nature formuliert. Die Vereinbarung von Cancún einzuhalten, wird sehr schwierig, keine Frage. Aber es ist besser, das Ziel mit ernsthaften Bemühungen knapp zu verfehlen, als es jetzt schon aufzugeben. „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Das Zitat stammt entweder von Rosa Luxemburg oder von Berthold Brecht.


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