Archiv für den Monat: November 2015

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2014-03 Paris und Rugby – 038Paris, der Eiffelturm, der in den kommenden Wochen vom Symbol für den Kampf gegen der Terror zum Symbol für das Ringen um Klimaschutz wird. Foto: C. Schrader

Vorbemerkung: Aus diesem Beitrag zum Start des Pariser Klimagipfels kann und will ich meine Meinung nicht heraushalten. Ich bemühe mich, die verschiedenen Auswertungen der freiwilligen Beiträge, die die Staaten der Welt bei der COP21 vortragen wollen, einigermaßen neutral zu analysieren, stufe diesen Text aber trotzdem als Kommentar ein.

Hamburg, 29. November 2015

Der einzige Erfolg, den die internationale Gemeinschaft bei ihren Verhandlungen bisher erzielt hat, ist die sogenannte Zwei-Grad-Grenze (und es ist eine Grenze, kein Ziel). Im mexikanischen Cancún, im Jahr 2010, haben die Staaten beschlossen, dass eine Erwärmung bis 2100 gegenüber der vorindustriellen Zeit um diesen Wert gefährlichen Klimawandel darstellt. Und am Anfang des ganzen Prozesses, 1992 in Rio de Janeiro, haben sie sich gegenseitig versprochen, dass sie einen gefährlichen Klimawandel verhindern wollen. Voilá. Voilá?

Weiteren Fortschritt hat es bisher nicht gegeben, aber für Paris erwarten ihn nun alle. Die Konferenz verfolgt einen anderen Ansatz als frühere Gipfel. Die Staaten versuchen nicht mehr, sich allesamt auf eine allgemeine Reduzierung der Treibhausgas-Emissionen (und auf eine Definition von Gerechtigkeit) zu einigen. Jeder einzelnes Land – und die EU als Gemeinschaft – legt einen Plan vor, wie es bis 2025 oder 2030 den Ausstoß bremsen will. Diese Pläne heißen INDC (Intended Nationally Determined Contributions). Es hat bereits etliche Bewertungen gegeben, was sie bewirken könnten, die zwischen mäßiger Erleichterung und vorsichtigem Optimismus schwanken. Extreme Äußerung der Zufriedenheit oder der Enttäuschung sind ausgeblieben. Klar ist, dass die Vorschläge nicht reichen, um die Erwärmung tatsächlich auf zwei Grad zu begrenzen. Aber wenn sich die Staaten tatsächlich an ihre Versprechen halten, dann laufen wir auch nicht mehr auf eine Vier-Grad-Welt zu.

Insofern ist vor Paris schon etwas Wichtiges geschehen: die zwangsläufige Erwärmung erscheint gebrochen, das sogenannte Business-as-usual (BAU) ist vom Tisch. Eine häufig verwendete Formulierung lautet daher, die INDCs und die Konferenz in Paris bauten eine Brücke zur Zwei-Grad-Grenze.

Es ist allerdings unklar, wie lang diese Brücke sein muss. Die meist gehandelte Zahl, was die INDCs bringen, lautet inzwischen 2,7 Grad Erwärmung. Sie stammt unter anderem von Christiana Figueres, der Leiterin des UN-Klimasekretariats UNFCCC in Bonn. Das gilt vielen als offizielle Stellungnahme, aber Figueres verweist im nächsten Absatz der Pressemitteilung darauf, dass die Zahl nicht von ihrer Organisation stammt, sondern von einer Reihe anderer Gruppen. Außerdem lautet das vollständige Zitat (meine Hervorhebung): „The INDCs have the capability of limiting the forecast temperature rise to around 2.7 degrees Celsius by 2100, by no means enough but a lot lower than the estimated four, five, or more degrees of warming projected by many prior to the INDCs.“ Es hängt also entscheidend davon ab, wie die Staaten ihre Politik in zehn bis 15 Jahren weiter entwickeln, das sagt Figueres auch deutlich. Und was das meint ist: wie die Staaten ihre Politik danach verschärfen.

Auf diesen Zusatz hat sehr eindeutig die amerikanische Umweltorganisation Climate Interactive hingewiesen. Demnach bringen die vorliegenden INDC die Welt nur auf den Kurs zu einer 3,5-Grad-Erwärmung bis 2100. Und das ist der wahrscheinlichste Wert: Wenn man sich eine Gaußverteilung um die 3,5 herum denkt, dann reicht nur ihr unterster Zipfel bis 2,0 Grad, aber der oberste dafür bis 4,6 Grad. Nur wenn die Staaten nach Ablauf der Pariser Vereinbarung deutlich nachlegen, wären überhaupt 2,7 Grad zu schaffen.

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Ein Vergleich, was verschiedene Organisationen aus den bisher vorgelegten INDCs machen. Quelle: World Resources Institute

Das sehen nicht alle Beobachter so. Das World Resources Institute hat mehrere Auswertungen auf seiner Webseite verglichen. Mit den Angaben in den Plänen zu rechnen ist nicht ganz einfach, weil viele Versprechen an Bedingungen gekoppelt sind: Entwicklungsländer fühlen sich an ihre Pläne nur gebunden, wenn die Industriestaaten ihren Beitrag leisten; manche Nationen machen die Emissionsreduktion auch von ihrem Wirtschaftswachstum abhängig. Oft wird der eigenen Beitrag als Abweichung vom Business-as-usual dargestellt.

Dem WRI zufolge ist 3,5 Grad einer der höheren Werte, aber er ragt auch nicht auffällig aus dem Feld heraus. Andererseits ist 2,7 Grad die niedrigste Zahl (wenn wir mal nur die roten Balken berücksichtigen). Ist es also ein gute Idee, diese ins Zentrum der Berichte zu stellen? Um es mal ganz offen und subjektiv zu sagen: Nein – ich finde das gefährlich.

Hier kommt ein psychologischer Effekt hinzu, mit dem zum Beispiel Supermärkte den Umsatz bestimmter Produkte steigern. Sie stellen neben den Wein oder die Nudeln oder die Butter eine billigere und eine teurere Alternaive: Wer keine Ahnung oder keine Vorliebe hat, greift dann meist zu dem mittleren Produkt, und fühlt sich einigermaßen gut, weil er ja eine Abwägung getroffen und die Extreme vermieden hat.

Dieser Mechanismus spielt auch in der Klimadebatte eine Rolle. Er führt zum Beispiel dazu, dass man 2,7 Grad, oder zur Not auch die 3,5 Grad, für einen brauchbaren Kompromiss zwischen den oft als unerreichbar bezeichneten zwei und dem Schreckgespenst mit vier bis fünf Grad Erwärmung hält. Oder dass man sich von den vier IPCC-Leitszenarien eines der mittleren aussucht, die beide auch über die Zwei-Grad-Grenze hinausführen. Diese Szenarien zeichnen die möglichen Entwicklung der Treibhausgase auf und haben merkwürdige Namen. Sie beginnen mit RCP (für Representative Concentration Pathway) und dann folgt eine Zahl: 2.6, 4.5, 6.0 oder 8.5. Sie beschreibt den sogenannten Strahlungsantrieb in Watt pro Quadratmeter, also die zusätzliche Heizleistung in der Lufthülle. Nur das RCP2.6 führt laut Weltklimarat einigermaßen sicher in eine Zukunft, in der die Staaten die Zwei-Grad-Grenze nicht reißen. RCP8.5 ist Business-as-usual, also praktisch überhaupt kein Klimaschutz. Der Mittelweg ist hier genauso fehl am Platz wie beim Urteil über die INDCs.

Allerdings hat vor Paris nicht zum ersten Mal die Debatte begonnen, ob die Zwei-Grad-Grenze nicht schon eine Illusion sei. So stellt es zum Beispiel der New-York-Times-Kolumnist Andrew Revkin dar und ähnlich steht es in Nature. Der Tenor ist, dass viele Szenarien, die die Erwärmung unter zwei Grad halten, negative Emissionen vorsehen, sprich es wird CO2 aktiv aus der Atmosphäre entnommen. Das gängigste – aber unerprobte – Verfahren heißt BECCS: Bioenergy with Carbon Capture and Sequestration. Dazu würde sehr viel Energie aus Holz oder Riesen-Chinaschilf oder Purgiernüssen oder anderen Pflanzen gewonnen, aber bei der Verbrennung das Kohlendioxid aufgefangen und unter der Erde verpresst. Da die Pflanzen zuvor CO2 aus der Atmosphäre entnommen hätten, das dann nicht zurückkehrt, hätte man negative Emissionen.

CCS hat nicht den besten Ruf, um es vorsichtig zu beschreiben. Vielleicht würde das ein wenig besser aufgenommen, wenn das CO2 aus Pflanzen statt aus Kohle stammt, aber sehr wahrscheinlich ist das angesichts des erbitterten Widerstandes nicht. Dennoch nennen zumindest zehn Staaten in ihren INDCs die Technik, darunter China, Kanada, Saudi-Arabien und Norwegen und Malawi.

In der Tat kann man bei den Szenarien – oder den INDCs, mindestens denen aus demokratisch regierten Staaten – Bedenken über die politische Durchsetzbarkeit haben. Aber erstens gibt es auch andere Wege unter die Zwei-Grad-Grenze, und zweitens ist das doch kein Glaubwürdigkeitsproblem für die Klimaforschung, wie der Autor in Nature formuliert. Die Vereinbarung von Cancún einzuhalten, wird sehr schwierig, keine Frage. Aber es ist besser, das Ziel mit ernsthaften Bemühungen knapp zu verfehlen, als es jetzt schon aufzugeben. „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Das Zitat stammt entweder von Rosa Luxemburg oder von Berthold Brecht.

 

Welche Pause?

NoaaJan-OctTempsSo sieht es aus, wenn die globale Erwärmung erlahmt, oder? Foto: Noaa

„Seepage“, das ist im Englischen ein technischer und geologischer Begriff, der etwas mit Ein- oder Durchsickern zu tun hat. Je nach den beteiligten Flüssigkeiten kann der Vorgang einigermaßen unappetitlich werden, und es ist anzunehmen, dass diese Assoziation Stephan Lewandowsky und Naomi Oreskes ganz willkommen war. Sie haben den Begriff nämlich ins Feld der Wissenschaftsgeschichte übertragen. In einem vielbeachteten Aufsatz monieren die beiden (er ist Psychologe von der Universität im britischen Bristol, sie Wissenschaftshistorikerin an der Harvard University), die Klimaforschung als Disziplin habe sich von ihren Kritikern die Agenda diktieren lassen. Regelrecht eingesickert ins Gewebe der Wissenschaft seien die ständigen Attacken der Lobbygruppen in Gestalt sogenannter Thinktanks und anderer Kritiker. Viele Forscher hätten versucht, Argumente der Kritiker mit ihrer Forschung inhaltlich zu entkräften, die sie eigentlich schon aus formalen Gründen als falsch hätten erkennen können. Aber dabei hätten sie eben die Prämisse der Angriffe akzeptiert und so legitimiert.

Lewandowsky, Oreskes und ihre Mitstreiter belegen ihre These anhand des Begriffs der sogenannten Erwärmungspause. Schon 2006 hatten die Kritiker damit begonnen, immer wieder zu behaupten, seit 1998 habe sich die Erde nicht mehr erwärmt. Dieses Anfangsjahr war offensichtlich mit Bedacht gewählt, denn es ragte als Rekordjahr weit über die bis dahin verfügbare globale Temperaturstatistik hinaus. Damals hatte zwar die Nasa schon für 2005 einen neuen Rekord ausgerufen, seither haben 2010 und 2014 jeweils Spitzentemperaturen erreicht, und auch 2015 ist der Platz Eins in der Statistik kaum noch zu nehmen. Aber solche Details haben die Kritiker nie groß interessiert.

Grundsätzlich ist ein Zeitraum von zunächst acht, inzwischen knapp 17 Jahren nicht lang genug, um Klimatrends zweifelsfrei zu belegen. Das Lewandowsky-Team listet dennoch 51 wissenschaftliche Aufsätze allein aus den Jahren 2013 und 2014 auf, die sich mit der angeblichen Pause befassten und Ursachen dafür suchten. Zudem übernahm der IPCC im Jahr 2013 das Argument und erklärte, die Erwärmung seit 1998 sei hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Damals rätselte alle Welt, ob der Weltklimarat in seiner wichtigen Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger sogar das Wort „Pause“ oder das verklausulierte, aber letztlich gleichbedeutende „Hiatus“ verwenden würde – er verzichtete darauf. Unter anderem die deutsche Delegation hatte sich dafür verwendet.

Es war jedoch anhand mehrerer Studien bald klar, dass an der Pause wenig dran ist; inzwischen belegen mehrere Untersuchungen sogar, dass es nicht einmal eine nennenswerte Verlangsamung der Erwärmung gegeben hat. „Das Einsickern passiert, wenn Wissenschaftler linguistische Ausdrücke übernehmen, die außerhalb der Wissenschaft aus politischen Gründen geschaffen wurden“, erläutert Lewandowsky. „Ironischerweise droht diese Gefahr auch dadurch, dass Forscher sich gegen den Ausdruck wenden, ihn aber dabei verwenden.“

Das alles ist einerseits nicht brandaktuell, denn die Seepage-Studie ist im Sommer 2015 erschienen. Andererseits aber doch. Denn eine Untersuchung, die mit wissenschaftlichen Methoden die Luft aus dem Hiatus-Gerede lassen wollte, ist gerade zum Gegenstand eines Streits in den USA geworden. Dort übt der republikanische Kongress-Abgeordnete Lamar Smith (aus Texas) Druck auf die Behörde für Ozeane und Atmosphäre Noaa aus. Sie solle alle Dokumente und E-Mails im Zusammenhang mit einem Science-Paper vom Juni herausgeben, weil Smith angeblichen Hinweisen auf Manipulationen von Daten nachgehen will. Die Behörde lehnt das ab und bekommt viel Unterstützung dafür.

Die Science-Studie von Thomas Karl, dem Direktor des Noaa-Zentrums für Umweltinformation, schlägt eine Rekalibrierung von Temperaturmessungen vor. Es geht um die Wassertemperaturen, die auf Schiffen gemessen wurden. Das Thema klingt langweilig, hat es aber in sich. Denn wird die Korrektur angewandt, dann verschwindet fast jedes Zeichen, dass sich die Erde zwischen 1998 und heute irgendwann langsamer erwärmt hat. Und Karl sagte, bzw schrieb mir, als ich in der SZ darüber berichtete, die neue Kalibrierung solle 2016 auch in den offiziellen Datensatz der Noaa einfließen – also in eines der beiden wichtigsten Zahlenwerke, die die globale Erwärmung dokumentieren.

Das konnten die organisierten Kritiker der Klimaforschung nicht zulassen. Die Attacke des Abgeordneten Smith folgt dabei einer geradezu lehrbuchhaften Taktik, die vor allem durch Joe McCarthy bei seiner Kommunistenhatz im Kalten Krieg perfektioniert wurde. Und weil es durchaus personelle Kontinuität zwischen den Falken von damals und den Thinktanks von heute gibt (siehe Oreskes’ Buch Merchants of Doubt), haben auch Klimaforscher diese Methode zu spüren bekommen. Zuerst Michael Mann von der Pennsylvania State University und jetzt eben Thomas Karl. Dessen These, dass es eigentlich überhaupt keine Erwärmungspause gegeben habe, ist übrigens schon vorher und nachher unabhängig aufgestellt und mit jeweils anderen Methoden und Daten begründet worden; die Zahl der entsprechenden Studien hatte zunächst vier, dann vierzig betragen. Das letztere Beispiel stammt wieder von dem Lewandowsky-Oreskes-Team.

Aktuell ist die Seepage-Diskussion auch deswegen, weil sie ein Beispielfall für Wissenschafts-Philosophen geworden ist. Ich habe vor einigen Tagen in der SZ darüber berichtet, dass sie über die Unterscheidung von schädlicher und produktiver Kritik an wissenschaftlichen Erkenntnissen debattieren. Einerseits ist ja klar, dass Einwände gegen neue Thesen geäußert werden dürfen und sollen, weil sie den Erkenntnisprozess oft vorantreiben. Auch wenn es nur dadurch geschieht, dass die Kritisierten sich ihrer Argumente klarer werden. Andererseits nutzten gerade die organisierten Lobbisten diesen Mechanismus, um Klimaforscher mit aufgebauschten oder erfundenen Einwänden zu bedrängen. Es reicht ihnen schon, den Anschein einer wissenschaftlichen Kontroverse zu erzeugen, dann können sie darauf verweisen und dringend davon abraten, sich auf die Wissenschaft zu verlassen, um irgendwas zu regulieren oder gar eine Abgabe auf den Ausstoß von Treibhausgasen zu beschließen.

Dennoch ist gerade bei der Diskussion über die angebliche Erwärmungspause sehr die Frage, ob das per se unwissenschaftlich ist. Lewandowsky und Oreskes meinen offenbar: ja. Doch die vielen Aufsätze, die dazu mittlerweile erschienen sind, haben die Wissenschaft ja auch weitergebracht. „Wenn das nicht der dumpfe Trommelschlag der Klimaskeptiker gewesen wäre, wüssten wir heute vielleicht viel weniger darüber, wo sich Wärme verstecken kann, zum Beispiel im tiefen Ozean“, sagt Mathias Frisch, ein deutscher Wissenschaft-Philosoph an der University of Maryland.

Ein pragmatisches Argument mit ähnlicher Zielrichtung hat Jochem Marotzke, Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. Er sieht die Arbeit weder als verloren noch als sonderlich fremdbestimmt an: „Das gab uns die Gelegenheit, über natürliche Variationen im Klimasystem zu sprechen, ohne dass man uns angähnt.“ Schließlich ist das Weltklima ein komplexes System, dessen Stellgrößen man noch längst nicht komplett verstanden hat. Es gibt offenbar zyklische Vorgänge, die einen Erwärmungstrend eine Weile maskieren können.

Zum Verständnis stelle man sich einmal die Bewegung eines Jojos an der Hand eines Kindes vor, das in einem Fahrstuhl nach oben fährt. Auch hier ist es möglich, dass das Spielzeug für eine kurze Zeit sozusagen stehen bleibt, bevor es dann umso schneller aufsteigt. Diesen Mechanismus jetzt diskutiert und genauer zu untersucht zu haben, hält Marotzke für einen großen Gewinn. Wäre das erst später passiert, wenn ein globales Abkommen zum Klimaschutz bereits beschlossen ist und das Publikum auf seinen Effekt wartet, dann hätte der politische Rückschlag deutlich heftiger ausfallen können, so der Max-Planck-Forscher.

Einen Beleg, dass man solche Warnungen ernst nehmen sollte, liefert die Ozonschicht. Um sie zu schützen, gilt seit 25 Jahren das Montreal-Protokoll mit seinem Verbot von FCKWs. Doch eindeutiger Fortschritt ist nicht zu erkennen, das Ozonloch wird eben nicht stetig immer kleiner. Wissenschaftler müssen ihr Publikum dann immer wieder vertrösten und ernten so mindestens hämische Kommentare. Da kann man sich ausmalen, was bei einem weitaus kontroverseren Abkommen gegen Treibhausgase passieren würde.

Christopher Schrader, 24. November 2015, alle Rechte vorbehalten

PS1: Auf Twitter hatte ich vor der Konferenz der Philosophen in Karlsruhe verkündet, es solle dort auch darum gehen, den sogenannten Klimaskeptikern das Wort Skepsis wieder zu entwinden, weil die seriöse Wissenschaft nicht ernsthaft darauf verzichten kann. Ich habe das dort auch gefragt, aber leider keine guten Rezepte gehört. Ein Teilnehmer sagte, wahrscheinlich könne man das Wort nur befreien, wenn man einen anderen griffigen Ausdruck für die Kritiker findet. Bisher ist keiner in Sicht, ich selbst eiere da auch herum. „Kritiker der etablierten Klimaforschung“ hat schon mal sieben Silben mehr als „Klimaskeptiker“. Im Englischen wird oft das Wort „denialists“ verwendet, aber das geht im Deutschen nicht. „Leugner“ ist durch die Holocaust-Leugner besetzt, und deren Behauptungen sind dann doch noch etliche Stufen widerlicher.

PS2: Full Disclosure – die Veranstalter der Karlsruher Konferenz haben meine Reise- und Übernachtungskosten für die Teilnahme bezahlt. So weit ich weiß, hatten sie eine DFG-Finanzierung dafür. Und ich habe dort auch mit diskutiert, statt passiv am Rand zu sitzen und alles zu beobachten. Dazu bewegt mich das Thema auch zu stark.

 

Der Klimawandel ist da, da und da

Darfur_cAlbert González Farran-UNDie Situation der Menschen in Darfur ist schon wegen des Bürgerkrieges dort extrem schwierig. Im Jahr 2014 erlebte Ostafrika auch noch besonders hohe Temperaturen und eine Dürre. Foto: UN Photo, Albert González Farran, flickr, creative commons license

6. November 2015

Bis vor kurzem haben Klimaforscher diese Frage gehasst: „Ist das schon der Klimawandel?“ Wenn Wälder brannten, Städte glühten, Felder vertrockneten oder anschwellende Flüsse Dörfer versenkten, dann rief bestimmt jemand an und wollte das wissen. Und meist war dann die Antwort: Es ist unmöglich, für ein einzelnes Extremereignis genau anzugeben, was es ausgelöst hat – oder dass es ohne Klimawandel niemals hätte entstehen können.

Doch inzwischen stellen sich die Wissenschaftler die Frage selbst. Dieser Zweig ihrer Disziplin heißt inzwischen „Attribution“, also Zuordnung. „So wie sich die Wissenschaft der Zuordnung von Ereignissen weiter entwickelt, wird auch unsere Fähigkeit wachsen, den Einfluss von Klimawandel und natürlicher Variation auf einzelne Wetterextreme auseinander zu halten“, sagt Thomas Karl, der bei der US-Behörde für Ozeane und Atmosphäre (Noaa) für Umweltinformation zuständig ist.

Seine Abteilung hat am Donnerstag zum vierten Mal einen Sonderband heraus gegeben, in dem Extremereignisse – diesmal des Jahres 2014 – darauf untersucht werden, ob der menschliche Einfluss auf das Klima etwas damit zu tun hatte (Bulletin of the American Meteorological Society, Bd. 96, Dezember 2015, online). „In all den vier Jahren hat der Bericht gezeigt, dass zum Beispiel extreme Hitze etwas mit den zusätzlichen Treibhausgasen in der Atmosphäre zu tun hat“, sagt Karl. „Wenn es aber um Niederschlägen geht, ist das noch nicht so überzeugend.“

28 Extremereignisse des Jahres 2014 untersuchen die Wissenschaftler in insgesamt 32 Studien. Die Ereignisse reichen von Hurrikanen in Hawaii und Waldbränden in Kalifornien über Dürre in Afrika und Lawinen in Nepal bis zu Starkregen in Neuseeland und dem Meereis der Antarktis. In den 32 Einzelstudien sagen die Forscher neunmal nein, fünfmal vielleicht und 18-mal ja, da gibt es einen Effekt des Klimawandels. Sie beeilen sich indes hinzuzufügen, sie sprächen von „probabilistischem, nicht deterministischem“ Einfluss. Der Klimawandel macht Extremereignisse also erkennbar wahrscheinlicher, aber er ist nicht allein für sie verantwortlich. Und die Wissenschaftler räumen auch ein, dass ihre Auswahl der Fallbeispiele nicht repräsentativ ist. So führt die meteorologische Weltorganisation in ihrem Bericht über 2014 noch Überschwemmungen in Afrika und Südamerika sowie eine Dürre in Zentralamerika auf, die in dem Noaa-Sonderband fehlen.

Geradezu symbolisch ist ein Ereignis, das sich genau in Raum und Zeit fixieren lässt. Es passierte im australischen Brisbane, der Hauptstadt des Bundesstaates Queensland. Dort trafen sich Mitte November 2014 die G20-Staaten zum Gipfel, Politiker wie US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel waren angereist. Die australischen Gastgeber um Premierminister Tony Abbott versuchten zwar, das ihnen missliebige Thema Klimawandel klein zu halten, doch die globale Erwärmung drängte in Gestalt einer Hitzewelle mit Macht auf die Tagesordnung. Am zweiten Gipfeltag erreichten die Temperaturen 39 Grad Celsius; 27 Grad wären an einem solchen Frühlingstag zu erwarten gewesen. Verantwortlich war, wie australische Wissenschaftler jetzt belegen, auch der Klimawandel.

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Der Einfluss des Klimawandels auf die Hitzewelle beim G20-Gipfel in Brisbane 2014: Schwarz sind historische Beobachtungen, blau Modellrechnungen ohne und rot solche mit Klimawandel. Die tatsächlich gemessenen Temperaturen liegen weit über der normalen Verteilung. Quelle: Andrew King et al, doi: 10.1175/BAMS-D-15-00098.1, im BAMS-Sonderband, Figure 28.1. 

Bei Hitzewellen ist die Beweislage in der Regel besonders klar. In den nun vier Noaa-Berichten, stellt ein Team um Stephanie Herring von der Behörde fest, hätte erst eine von 22 Studien bei Hitzewellen keinen Einfluss des Klimawandels gefunden. Auch diesmal zeigen alle Analysen einen solchen Effekt. Für Brisbane im November 2014 hat die globale Erwärmung die brutale Hitze um 44 Prozent wahrscheinlicher gemacht, rechnet ein Team australischen Klimaforscher vor. Um solche Aussagen zu gewinnen, nutzen die Forscher Klimamodelle, in denen sie die Menge an Treibhausgasen in der Luft frei wählen und den Klimawandel sozusagen abschalten können. Sie vergleichen also die reale Welt mit einer fiktiven. Dabei kommen oft noch deutlich größere Aufschläge auf die Wahrscheinlichkeit als beim Beispiel Brisbane heraus, dass eine Hitzewelle entsteht. Sie werden meist nicht mehr als Prozentzahl ausgedrückt, sondern als Faktor. In anderen Teilstudien schreiben die jeweiligen Autoren, die Spitzentemperaturen in Argentinien im Dezember 2013 sei durch den Klimawandel fünfmal so wahrscheinlich geworden, die Hitze in Nordchina im Sommer 2014 elfmal und die Thermometerausschläge im australischen Herbst 2014 (im Mai) sogar 23-mal so wahrscheinlich. Auch die Rekordwärme in Europa im ganzen Jahr 2014 sei durch den Klimawandel zehnmal so wahrscheinlich geworden wie ohne, besagt eine Studie.

Die Wärme hat womöglich auch in Kalifornien zu einer extremen Saison der Waldbrände geführt. Für 2014 berichtete Cal-Fire von 1000 Bränden mehr als im Fünf-Jahres-Durchschnitt. Und 2015 ging es weiter: Bis Ende Oktober hatte es fast 2000 Feuer mehr gegeben als zur gleichen Zeit ein Jahr zuvor (allerdings sind die Angaben der verbrannten Fläche in den offiziellen Statistiken etwas rätselhaft). Doch obwohl der Zusammenhang klar erscheint, tun sich die Forscher schwer, bei einzelnen Feuern oder sogar einer ganzen Saison den Einfluss des Klimawandels fest zu machen. Sie erwarten jedoch, dass die globale Erwärmung in Zukunft zur weiter steigenden Zahlen der Brände und der betroffenen Waldflächen beitragen wird. „Wenn wir die Tendenz betrachten, zeigen die Daten eindeutig einen Anstieg“, sagte der Leitautor dieser Studie, Jin-Ho Yoon vom Pacific Northwest Laboratory bei Climate Central.

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Feuer im Yosemite-Nationalpark im Juli 2014. Foto: Stuart Palley/EPA

Interessant, wenn auch ähnlich unentschieden, ist die Analyse des Meereises um die Antarktis. Dessen Fläche hatte im Jahr 2014 zum ersten Mal seit langer Zeit wieder die Schwelle von 20 Millionen Quadratkilometern überschritten – es war der dritte Rekord in Folge. Im Südpolarmeer zeigt sich also der umgekehrte Trend wie im Norden. Verantwortlich war 2014 ein Feld ungewöhnlicher Winde, die schwimmende Eisschollen vom Kontinent Antarktis weg nach außen trieben, weil sie besonders kalte Luft relativ weit nach Norden brachten. Besonders zu bemerken war das in den Sektoren die Antarktis, die südlich von Neuseeland und vom mittleren Indischen Ozean liegen. Die Autoren haben sich dann, unter anderem mithilfe eines Supercomputers in Barcelona bemüht, einen menschlichen Einfluss auf diese Windfelder zu erkennen. Richtig gelungen ist es ihnen aber nicht.

Auch bei allem, was mit Regen oder fehlendem Regen zu tun hat, ist das Bild durchwachsen, wie schon von Thomas Karl angekündigt. Dürre zum Beispiel kann schließlich durch mangelnde Niederschläge, größere Hitze oder eine Kombination aus beidem ausgelöst werden. Zwei Studien zur Trockenheit in Ostafrika 2014 kommen darum zu widersprüchlichen Ergebnissen: die eine sieht den Effekt des Klimawandel, die andere eher nicht. Den Wassermangel in Brasilien erklärt ein weiteres Team durch steigende Bedürfnisse einer wachsenden Bevölkerung. Auch eine menschliche Ursache, aber eben nicht der Klimawandel. Übermäßiger Regen wiederum hatte 2014 Großbritannien, Südfrankreich, Indonesien und Neuseeland getroffen. Nur für das letzte Beispiel glauben die Forscher den Einfluss des Klimawandels belegen zu können, bei den europäischen Ländern liefert die Analyse nur ein „Vielleicht“, und die Regenfälle in der indonesischen Hauptstadt Jakarta seien nicht einmal ungewöhnlich gewesen.

Dagegen habe der Klimawandel einen extremen Wintersturm über dem Himalaja in Nepal begünstigt, sagt eine Studie. Das bisher seltene Zusammentreffen eines tropischen Zyklons im Golf von Bengalen mit einer kurzlebigen Wetterdepression, die dem Sturm den Weg zum Gebirge bahnte, werde in Zukunft häufiger vorkommen, so das Autorenteam. Im Oktober 2014 verloren dadurch laut der Studie allein 43 Menschen in Lawinen ihr Leben.

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Der Weg des Hurrikans Gonzalo im Oktober 2014 nach Europa. Die tatsächliche Zugbahn ist violett, langfristige Vorausberechnungen seiner Route sind rot, kurzfristige gelb. Quelle: Frauke Feser et al, doi: 10.1175/BAMS-D-15-00122.1, im BAMS-Sonderband, Figure 11.1

Im gleichen Monat wurde Europa von einem starken Sturm getroffen, der sich aus dem Hurrikan Gonzalo in der Karibik entwickelt hatte. Dieser war um den 12. des Monates entstanden und dann binnen elf Tagen in einem weiten Bogen bis nach Griechenland gereist. Das, stellt eine Forschergruppe mit starker deutscher Beteiligung fest, war aber nicht so ungewöhnlich, wie es zuerst aussah. Winterstürme in Nordamerika und Hurrikane auf Hawaii seien aber sehr wohl durch den Klimawandel wahrscheinlicher geworden.

Christopher Schrader, alle Rechte vorbehalten

Hinweis: Dieser Beitrag beruht auf einem Artikel, den ich für die Süddeutsche Zeitung geschrieben habe.

 

Wo das Meereis bleibt

Polar ice viewed from aboard the Norwegian Coast Guard vessel, "KV Svalbard", during Secretary-General Ban Ki-moon’s visit to the Polar ice rim to witness firsthand the impact of climate change on icebergs and glaciers. The visit is part of the UN Chief's campaign urging Member States to negotiate a fair, balanced and effective agreement at the UN Climate Change Conference in Copenhagen in December. 1/Sep/2009. Polar Ice Rim, Norway. UN Photo/Mark Garten. www.un.org/av/photo/

Meereis vor Spitzbergen im September 2009, aufgenommen vom norwegischen Küstenwachboot KV Svalbard bei einem Besuch des UN-Generalsekretärs Ban Ki-moon,
Foto: UN Photo, Mark Garten, www.un.org/av/photo, flickr, creative commons licence

3. November 2015

Auf Spitzbergen hat der Klimawandel kurz der Jahrtausendwende richtig angefangen. Der Osten der Inselgruppe war bis dahin fest im Griff des Meereises. Wenn es dort 15 eisfreie Tage im Jahr gab, war das schon eine Ausnahme; mehr als 50 kamen praktisch nicht vor. Das begann sich in den späten 1990er-Jahren zu ändern: Der Trend der Jahr für Jahr erfassten eisfreien Tage knickte plötzlich nach oben. Den Maximalwert der historischen natürlichen Schwankungen, also jene 50 Tage, dürfte Spitzbergen etwa 2020 verlassen, und Mitte des Jahrhunderts ist an seiner Ostküste mit 100 eisfreien Tagen im Jahr zu rechnen, haben amerikanische Polarforscher berechnet. Es gehört damit zu den vielen Orten und Regionen rund um die Arktis, die bald verlässlich offenes Wasser vor sich haben werden.

„2050 werden die gesamte arktische Küste und der Großteil des Polarmeers 60 zusätzliche Tage von offenem Wasser erleben, und an vielen Orten werden es sogar 100 Tage sein“, fasst das Team um Katharine Barnhart von der University of Colorado in Boulder ihre Studie zusammen (Nature Climate Change, online, doi: 10.1038/nclimate2848). Die vier haben mit einem Computermodell berechnet, wie ungebremster Klimawandel die Geographie des Hohen Nordens ändern würde: Schließlich war das Eis in vielen Regionen eine feste Größe, dazu gehörten neben Ost-Spitzbergen auch die Ostküste Grönlands, Teile der kanadischen Inseln am Rande des Polarmeers und natürlich das Meer über dem Nordpol. In der ganzen Region beginnt  die Schmelzsaison früher und endet später.

Zurzeit ist diese Phase etwa Mitte September zu Ende. Dann erreicht das Meereis über die gesamte Arktis betrachtet seine geringste Ausdehnung, danach frieren wieder zehntausende Quadratkilometer zu (genauer: sie sind wieder zu mehr als 15 Prozent mit Gefrorenem bedeckt und fallen so aus der Kategorie „eisfrei“ heraus). Neben der jährlichen Durchschnittstemperatur ist die Meereis-Fläche am Ende der Schmelzsaison die zweite Größe, an der unter großer öffentlicher Anteilnahme die von natürlichen Schwankungen überlagerte Veränderung des Klimas abgelesen werden kann (siehe zum Beispiel Noaa und Meereisportal.de). Doch die reine Zahl der Quadratkilometer Meereis ist nur eine sehr pauschale Größe.

Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wann sich die Verhältnisse wo ändern, hat die Gruppe aus Boulder eine sogenannte Ensemble-Simulation ausgewertet. 30-mal wurde dafür das gleiche Klimamodell angeworfen, nachdem es mit jeweils leicht veränderten Ausgangswerten gefüttert worden war. Dieses Verfahren liefert eine Vorstellung davon, wie genau ein Ergebnis einer solchen Kalkulation bestimmt ist oder wie stark es von Zufällen abhängt . Das verleiht den Rechenwerten im besten Fall eine statistische Signifikanz. (Das Verfahren wird auch bei Wetterprognose verwendet: Wenn die Ergebnisse im Ensemble nahe beieinander liegen, und wenn auch die jeweils anderen Wetterdienste ähnliche Ergebnisse erzielen, getrauen sich Meteorologen, auch mal über längere Zeiträume als drei bis vier Tage eine Vorhersage zu machen.)

OpenWaterDaysArctic_Nov2015_Fig2Der Rückzug des ewigen Eises: Die Karte zeigt, in welchem Jahr eine Region der Arktis voraussichtlich zum letzten Mal für ein halbes Jahr von Eis bedeckt ist. Weiße Regionen hatten bisher stets offenes Wasser, das karierte Zentrum niemals. Grafik: Barnhart et al, Nature Climate Changeonline, doi: 10.1038/nclimate2848, Fig 2

Das Ergebnis ist zum Beispiel diese Karte. Sie zeigt, wann sich der Charakter einzelner Regionen der Arktis ändert, weil sie nun weniger als ein halbes Jahr von Eis eingeschlossen sind. In der kanadischen Hudson Bay (links unten) zum Beispiel ist der Prozess im Jahr 2040 abgeschlossen, entlang der grönländischen Küsten zieht sich das heute noch vorherrschende Eis ab 2025 nach Norden zurück. Mindestens 182 Tage Eis im Jahr gibt es dieser Simulation zufolge (sowie unter der Voraussetzung, dass die Staaten der Welt keinen wirksamen Klimaschutz beschließen) am Ende des Jahrhundert praktisch nur noch auf der grönländischen und ostkanadischen Seite des Polarmeeres, aber nicht mehr vor Alaska, und fast nicht mehr vor Sibirien.

Eine andere Studie hatte vor kurzem zudem gezeigt, dass der Arktis in den vergangenen Jahrzehnten sogar noch einiges erspart geblieben ist. Die Luftverschmutzung hat den Klimawandel in der Region abgemildert: 60 Prozent der Erwärmung, die Treibhausgase über das 20. Jahrhundert ausgelöst haben, wurden durch andere Emissionen abgepuffert, die in Form von Aerosolen in der Luft schweben. Die wichtigste Stoffgruppe dabei waren und sind Sulfate. Die Schwefel-Verbindungen, die auch bei Vulkanausbrüchen frei werden, kühlen das Klima ab, weil sie die Wolkenbildung verstärken. Ihnen entgegen wirken Rußpartikel, die in der Arktis niedergehen, und das Eis leicht grau färben. Es absorbiert dann eine Spur mehr Sonnenlicht und schmilzt schneller. Allerdings schützen die Sulfate das Eis stärker als Ruß es gefährdet.

Kanadische Forscher haben sich nun gefragt, wie das weitergeht. In den Zukunftszenarien, mit denen Klimaforscher gemeinhin rechnen, ist auch ein Rückgang der Luftverschmutzung eingeplant: Was aber passiert, wenn dieser Effekt trotz ansonsten leidlich effektiven Klimaschutzes (für Experten: RCP4.5) ausbleibt? Der Arktis, so ergibt die Rechnung von Marie-Ève Gagné und ihrer Kollegen vom kanadischen Umweltministerium, blieben dann die eisfreien Sommer ein weiteres gutes Jahrzehnt erspart: Statt 2045 passiert es erst 2057, dass die Meereis-Fläche im September unter die Grenze von einer Million Quadratkilometer fällt (Geophysical Research Letters, online, doi: 10.1002/2015GL065504). Das wäre deutlich weniger als zurzeit – 2014 waren es etwas mehr als fünf, im Jahr des Rekords 2012 immerhin 3,4 Millionen Quadratkilometer. Die schmutzige Luft wäre dann für das Meereis der Arktis sogar ein wenig vorteilhafter als ein insgesamt erfolgreicher Klimaschutz mit einer ehrgeizigen Senkung der Treibhausgas-Emissionen. „Die Studie bedeutet aber nicht, dass wir keine Gesetze für saubere Luft haben sollten“, sagte Nathan Gillett, Gagnés Kollegen und Ko-Autor, der Webseite Climate Central. „Viele Untersuchungen haben schließlich gezeigt, dass die Reduktion der Aerosole insgesamt große Vorteile bringt.“

Christopher Schrader, alle Recht vorbehalten