Schlagwort-Archive: China

Ei-enn-di-ssie

2014-03 Paris und Rugby – 038Paris, der Eiffelturm, der in den kommenden Wochen vom Symbol für den Kampf gegen der Terror zum Symbol für das Ringen um Klimaschutz wird. Foto: C. Schrader

Vorbemerkung: Aus diesem Beitrag zum Start des Pariser Klimagipfels kann und will ich meine Meinung nicht heraushalten. Ich bemühe mich, die verschiedenen Auswertungen der freiwilligen Beiträge, die die Staaten der Welt bei der COP21 vortragen wollen, einigermaßen neutral zu analysieren, stufe diesen Text aber trotzdem als Kommentar ein.

Hamburg, 29. November 2015

Der einzige Erfolg, den die internationale Gemeinschaft bei ihren Verhandlungen bisher erzielt hat, ist die sogenannte Zwei-Grad-Grenze (und es ist eine Grenze, kein Ziel). Im mexikanischen Cancún, im Jahr 2010, haben die Staaten beschlossen, dass eine Erwärmung bis 2100 gegenüber der vorindustriellen Zeit um diesen Wert gefährlichen Klimawandel darstellt. Und am Anfang des ganzen Prozesses, 1992 in Rio de Janeiro, haben sie sich gegenseitig versprochen, dass sie einen gefährlichen Klimawandel verhindern wollen. Voilá. Voilá?

Weiteren Fortschritt hat es bisher nicht gegeben, aber für Paris erwarten ihn nun alle. Die Konferenz verfolgt einen anderen Ansatz als frühere Gipfel. Die Staaten versuchen nicht mehr, sich allesamt auf eine allgemeine Reduzierung der Treibhausgas-Emissionen (und auf eine Definition von Gerechtigkeit) zu einigen. Jeder einzelnes Land – und die EU als Gemeinschaft – legt einen Plan vor, wie es bis 2025 oder 2030 den Ausstoß bremsen will. Diese Pläne heißen INDC (Intended Nationally Determined Contributions). Es hat bereits etliche Bewertungen gegeben, was sie bewirken könnten, die zwischen mäßiger Erleichterung und vorsichtigem Optimismus schwanken. Extreme Äußerung der Zufriedenheit oder der Enttäuschung sind ausgeblieben. Klar ist, dass die Vorschläge nicht reichen, um die Erwärmung tatsächlich auf zwei Grad zu begrenzen. Aber wenn sich die Staaten tatsächlich an ihre Versprechen halten, dann laufen wir auch nicht mehr auf eine Vier-Grad-Welt zu.

Insofern ist vor Paris schon etwas Wichtiges geschehen: die zwangsläufige Erwärmung erscheint gebrochen, das sogenannte Business-as-usual (BAU) ist vom Tisch. Eine häufig verwendete Formulierung lautet daher, die INDCs und die Konferenz in Paris bauten eine Brücke zur Zwei-Grad-Grenze.

Es ist allerdings unklar, wie lang diese Brücke sein muss. Die meist gehandelte Zahl, was die INDCs bringen, lautet inzwischen 2,7 Grad Erwärmung. Sie stammt unter anderem von Christiana Figueres, der Leiterin des UN-Klimasekretariats UNFCCC in Bonn. Das gilt vielen als offizielle Stellungnahme, aber Figueres verweist im nächsten Absatz der Pressemitteilung darauf, dass die Zahl nicht von ihrer Organisation stammt, sondern von einer Reihe anderer Gruppen. Außerdem lautet das vollständige Zitat (meine Hervorhebung): „The INDCs have the capability of limiting the forecast temperature rise to around 2.7 degrees Celsius by 2100, by no means enough but a lot lower than the estimated four, five, or more degrees of warming projected by many prior to the INDCs.“ Es hängt also entscheidend davon ab, wie die Staaten ihre Politik in zehn bis 15 Jahren weiter entwickeln, das sagt Figueres auch deutlich. Und was das meint ist: wie die Staaten ihre Politik danach verschärfen.

Auf diesen Zusatz hat sehr eindeutig die amerikanische Umweltorganisation Climate Interactive hingewiesen. Demnach bringen die vorliegenden INDC die Welt nur auf den Kurs zu einer 3,5-Grad-Erwärmung bis 2100. Und das ist der wahrscheinlichste Wert: Wenn man sich eine Gaußverteilung um die 3,5 herum denkt, dann reicht nur ihr unterster Zipfel bis 2,0 Grad, aber der oberste dafür bis 4,6 Grad. Nur wenn die Staaten nach Ablauf der Pariser Vereinbarung deutlich nachlegen, wären überhaupt 2,7 Grad zu schaffen.

VergleichINDC-Wirkung_cWRI
Ein Vergleich, was verschiedene Organisationen aus den bisher vorgelegten INDCs machen. Quelle: World Resources Institute

Das sehen nicht alle Beobachter so. Das World Resources Institute hat mehrere Auswertungen auf seiner Webseite verglichen. Mit den Angaben in den Plänen zu rechnen ist nicht ganz einfach, weil viele Versprechen an Bedingungen gekoppelt sind: Entwicklungsländer fühlen sich an ihre Pläne nur gebunden, wenn die Industriestaaten ihren Beitrag leisten; manche Nationen machen die Emissionsreduktion auch von ihrem Wirtschaftswachstum abhängig. Oft wird der eigenen Beitrag als Abweichung vom Business-as-usual dargestellt.

Dem WRI zufolge ist 3,5 Grad einer der höheren Werte, aber er ragt auch nicht auffällig aus dem Feld heraus. Andererseits ist 2,7 Grad die niedrigste Zahl (wenn wir mal nur die roten Balken berücksichtigen). Ist es also ein gute Idee, diese ins Zentrum der Berichte zu stellen? Um es mal ganz offen und subjektiv zu sagen: Nein – ich finde das gefährlich.

Hier kommt ein psychologischer Effekt hinzu, mit dem zum Beispiel Supermärkte den Umsatz bestimmter Produkte steigern. Sie stellen neben den Wein oder die Nudeln oder die Butter eine billigere und eine teurere Alternaive: Wer keine Ahnung oder keine Vorliebe hat, greift dann meist zu dem mittleren Produkt, und fühlt sich einigermaßen gut, weil er ja eine Abwägung getroffen und die Extreme vermieden hat.

Dieser Mechanismus spielt auch in der Klimadebatte eine Rolle. Er führt zum Beispiel dazu, dass man 2,7 Grad, oder zur Not auch die 3,5 Grad, für einen brauchbaren Kompromiss zwischen den oft als unerreichbar bezeichneten zwei und dem Schreckgespenst mit vier bis fünf Grad Erwärmung hält. Oder dass man sich von den vier IPCC-Leitszenarien eines der mittleren aussucht, die beide auch über die Zwei-Grad-Grenze hinausführen. Diese Szenarien zeichnen die möglichen Entwicklung der Treibhausgase auf und haben merkwürdige Namen. Sie beginnen mit RCP (für Representative Concentration Pathway) und dann folgt eine Zahl: 2.6, 4.5, 6.0 oder 8.5. Sie beschreibt den sogenannten Strahlungsantrieb in Watt pro Quadratmeter, also die zusätzliche Heizleistung in der Lufthülle. Nur das RCP2.6 führt laut Weltklimarat einigermaßen sicher in eine Zukunft, in der die Staaten die Zwei-Grad-Grenze nicht reißen. RCP8.5 ist Business-as-usual, also praktisch überhaupt kein Klimaschutz. Der Mittelweg ist hier genauso fehl am Platz wie beim Urteil über die INDCs.

Allerdings hat vor Paris nicht zum ersten Mal die Debatte begonnen, ob die Zwei-Grad-Grenze nicht schon eine Illusion sei. So stellt es zum Beispiel der New-York-Times-Kolumnist Andrew Revkin dar und ähnlich steht es in Nature. Der Tenor ist, dass viele Szenarien, die die Erwärmung unter zwei Grad halten, negative Emissionen vorsehen, sprich es wird CO2 aktiv aus der Atmosphäre entnommen. Das gängigste – aber unerprobte – Verfahren heißt BECCS: Bioenergy with Carbon Capture and Sequestration. Dazu würde sehr viel Energie aus Holz oder Riesen-Chinaschilf oder Purgiernüssen oder anderen Pflanzen gewonnen, aber bei der Verbrennung das Kohlendioxid aufgefangen und unter der Erde verpresst. Da die Pflanzen zuvor CO2 aus der Atmosphäre entnommen hätten, das dann nicht zurückkehrt, hätte man negative Emissionen.

CCS hat nicht den besten Ruf, um es vorsichtig zu beschreiben. Vielleicht würde das ein wenig besser aufgenommen, wenn das CO2 aus Pflanzen statt aus Kohle stammt, aber sehr wahrscheinlich ist das angesichts des erbitterten Widerstandes nicht. Dennoch nennen zumindest zehn Staaten in ihren INDCs die Technik, darunter China, Kanada, Saudi-Arabien und Norwegen und Malawi.

In der Tat kann man bei den Szenarien – oder den INDCs, mindestens denen aus demokratisch regierten Staaten – Bedenken über die politische Durchsetzbarkeit haben. Aber erstens gibt es auch andere Wege unter die Zwei-Grad-Grenze, und zweitens ist das doch kein Glaubwürdigkeitsproblem für die Klimaforschung, wie der Autor in Nature formuliert. Die Vereinbarung von Cancún einzuhalten, wird sehr schwierig, keine Frage. Aber es ist besser, das Ziel mit ernsthaften Bemühungen knapp zu verfehlen, als es jetzt schon aufzugeben. „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Das Zitat stammt entweder von Rosa Luxemburg oder von Berthold Brecht.

 

Vorbild Schweiz

1999-Zürich – 03Münsterbrücke über die Limmat in Zürich, Foto: C. Schrader

26.10.2015

In fünf Wochen beginnt in Paris der 21. Klimagipfel der Vereinten Nationen. Die Delegationen aus Europa, China und den USA werden dort vermutlich mit breiter Brust auftreten, und davon schwärmen, was sie alles für den Klimaschutz tun wollen. Insgesamt 154 Staaten haben im Vorfeld der Konferenz ihre nationalen oder regionalen Pläne eingereicht (weil die EU sich intern abgestimmt hat, sind bisher 127 solcher INDCs registriert worden). Bei Fachleuten löst das noch keine Euphorie aus: „Wenn man sich anschaut, was die Staaten der Welt bislang für Paris auf den Tisch gelegt haben, so ist klar: Es reicht nicht, um die globale Erwärmung unter der international anerkannten Grenze von zwei Grad Celsius zu halten“, sagt Sebastian Oberthür von der Freien Universität Brüssel. Auch ein Konsortium von 16 anderen Forschungsinstituten hatte vergangene Woche die Zahlen im sogenannten Miles-Report als mangelhaft bewertet.

Das einzige Land, das wirklich stolz auf sich sein kann, ist die Schweiz. Nach einer neuen Berechnung tut die Eidgenossenschaft nicht nur mehr als genug gemessen an ihrer Größe; sie könnte auch als Vorbild alle anderen Nationen mitziehen, wenn sie nicht so klein wäre, schreiben Malte Meinshausen von der University of Melbourne, Sebastian Oberthür und weitere acht Kollegen in Nature Climate Change (online; doi: 10.1038/nclimate2826). „Die Schweiz hat in ihrem INDC eine 50-prozentige Reduktion (der Treibhausgas-Emissionen) bis 2030 versprochen. Das macht sie zum einzigen Staat, der eine Diversitäts-bewusste Führungsrolle übernimmt“, bescheinigen die Forscher dem Land.

Um die Argumentation und den sperrigen Begriff „Diversitäts-bewusste Führungsrolle“ zu verstehen, muss man etwas ausholen. Der Klimagipfel in Paris versucht mit einer anderen Strategie zu einem globalen Abkommen zu gelangen als das Treffen 2009 in Kopenhagen. Damals sollten verbindliche Quoten beschlossen werden, um die alle Länder ihre Emissionen senken sollten. Aber der Verteilungsschlüssel war höchst umstritten. Darum haben die Staaten für Paris nur freiwillige Zusagen gemacht: INDC heißt „Intended Nationally Determined Contribution“, also „beabsichtigter, national bestimmter Beitrag“. Niemand soll in Paris zu irgendetwas gezwungen oder gar überstimmt werden.

Das ist nicht nur pragmatisch, um überhaupt diesmal ein globales Abkommen zu erzielen, sondern übertüncht auch einen fundamentalen Widerspruch im Verständnis von Gerechtigkeit. Die Industriestaaten stoßen schließlich ganz allgemein gesprochen deutlich mehr Treibhausgase pro Einwohner aus als Schwellen- oder Entwicklungsländer. Wenn also irgendwann in der Zukunft für alle Menschen die gleiche Quote gelten soll – früher war mal die Rede von zwei Tonnen Kohlendioxid pro Person und Jahr -, dann bleibt immer noch die Frage, wie man dort hinkommt.

Es gibt zwei Vorschläge. Erste Möglichkeit: Alle Staaten nähern sich von ihrem augenblicklichen Niveau langsam diesem Ziel an. Die Deutschen reduzieren also ihre Emissionen von gut neun auf zwei Tonnen, während die Inder mit zurzeit 1,7 Tonnen noch Spielraum haben und Vietnam mit zwei Tonnen pro Person und Jahr auf der Stelle treten muss. Das wäre eine Methode, die man als Verteilungsgerechtigkeit bezeichnen könnte.

Zweite Möglichkeit: Das Verfahren der Zuweisung von Emissionen korrigiert die Geschichte. Dann würde die Staatengemeinschaft eine Zahl festlegen, wie viele Tonnen für jeden Menschen ein Land – seit sagen wir mal 1950 – ausgestoßen haben darf und in diesem Jahrhundert weiter ausstoßen darf. Das erlaubte ärmeren Staaten höhere Mengen und eine nachholende wirtschaftliche Entwicklung nach den Mustern der Industriestaaten, also zum Beispiel mit Kohlekraftwerken, während die reicheren Nationen schneller und deutlich stärker einsparen müssten.

Über diese Frage war zwischen den Nationen keine Einigkeit zu erzielen, und das ist vermutlich auch für die Zukunft utopisch. Und so orientieren sich die reicheren Staaten bei ihren INDCs in der Regel an der Verteilungsgerechtigkeit, die ärmeren an der korrigierenden Gerechtigkeit. Die Reichen wollen die Vergangenheit ignorieren, die Armen wollen sie berücksichtigt wissen. Das führt dazu, dass jedes Land seine Vorteile ausrechnet und sich die jeweils höhere Emissionsmenge bzw die niedrigere Reduktionsquote aussucht und nach Paris meldet. Unter anderem darum reicht die Summe der Versprechungen nicht aus.

Der Gedanke des Meinshausen-Teams war nun folgender: Dieser Mechanismus ist eigentlich einfach zu durchschauen und im Prinzip auch einfach zu korrigieren. Es muss sich ein Land A dieser Diversität im Gerechtigkeitsbegriff bewusst werden, diese tolerieren und dann auf dieser Basis den eigenen Beitrag neu kalkulieren. Und dabei eine Führungsrolle einnehmen. Land A könne sich dabei darauf verlassen, so behaupten die Forscher, dass seine Freunde und Handelspartner B bis Z seinem Vorbild folgen, und den gleichen Ehrgeiz an den Tag legen, wenn es mal jemand vorgemacht hat. Schließlich möchten die Länder vor allem nicht ins Hintertreffen geraten und zum Beispiel der eigenen Industrie Vorgaben machen, die Konkurrenz-Unternehmen woanders nicht erfüllen müssen. Sie wollen also Nachteile gegenüber anderen Nationen vermeiden, nicht unbedingt Vorteile erzielen. Ob man sich in der internationalen Politik allerdings darauf verlassen kann, ist sicherlich Stoff einer sehr langen Debatte.

 

GHGTargetsExampleSetting_Fig4a-c

Was passieren würde, wenn die USA sich als Vorbild für die Welt verstünde, illustriert das Forscherteam mit diesem bunten Tortendiagramm. Teil a ist die Legende, welche Farbe für welches Land oder Region steht. In Teil b sind die Beiträge aller Staaten berechnet, die sich an dem momentanen Reduktionsversprechen der USA orientieren. Es führt zu einem weiteren Anstieg der Treibhausgas-Emissionen bis 2030 von sechs Prozent. Sagt Amerika hingegen eine stärkere Senkung des Ausstoßes zu, dann folgen die restlichen Staaten, so dass am Ende eine tatsächlich das Klimaziel erreicht werden kann.
Quelle: Meinshausen et al: National post-2020 greenhouse gas targets and diversity-aware leadership, Nature Climate Change, online, doi: 10.1038/nclimate2826.

Malte Meinshausen als Sprecher der Forschungsteams argumentiert nun: „Wenn die Europäische Union oder die USA als Pionier der weltweiten Klimapolitik handeln würden, so könnte die Blockade der Verhandlungen über eine gerechte Lastenteilung aufgebrochen werden.“ Leicht wäre das allerdings nicht. Die EU und die USA müssten ihre Reduktionen praktisch verdoppeln. Amerika hat angekündigt, bis 2025 um 26 bis 28 Prozent weniger Treibhausgase auszustoßen als 2005. Um andere Nationen als Vorbild mitzuziehen, müsste das Land seine Vorgabe auf 54 Prozent erhöhen, haben die Forscher errechnet. Die EU wiederum hat beschlossen, bis 2030 um 40 Prozent weniger Treibhausgase auszustoßen als 1990; nach der Nature Climate Change-Studie müssten es minus 67 Prozent sein. Und China, das bisher nur versprochen hat, seine Emissionen ab 2030 nicht mehr steigen zu lassen, müsste als Vorbild dann schon den Ausstoß um 32 Prozent unter die Werte von 2010 gesenkt haben. Das hält das Forschungsteam für komplett unrealistisch.

Was in Paris auf dem Tisch liegt, genügt also auch in dieser Hinsicht noch nicht. Nur bei der Schweiz: Sie müsste als Vorbild ihre Emissionen bis 2030 um 44 Prozent senken, versprochen hat sie aber bereits 50 Prozent.

Man kann das für eine optimistische Botschaft halten; die Autoren der Studie tun es jedenfalls. „Diese Idee ist jedenfalls weniger utopisch, als sich auf eine universelle Verteilungsmethode zu einigen“, sagt Louise Jeffreys vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). „Aber sie stützt sich auf die Annahme, dass die wichtigsten Wirtschaftsmächte auf die eine oder andere Weise mitmachen.“

Je nach politischer Grundeinstellung kann man aber auch die Aussage des vergangene Woche veröffentlichten Miles-Reports für realistischer halten. Die 16 Institute unter Federführung des IDDRI in Frankreich (Institut du développement durable et des relations internationales) bezeichnen die bisher eingereichten INDCs immerhin als tragfähige Brücke in eine Zukunft, in der sich das bereits international vereinbarte Klimaziel erreichen lässt. Die nationalen Pläne würden einen breiten Umbau der Energieversorgung anstoßen, stellen die Wissenschaftler fest. „Die Beurteilung der INDCs sollte sich nach ihrem Potenzial richten, die umfassende Dekarbonisierung des Energiesektors auf den Weg zu bringen“, sagt die Projektleiterin Teresa Ribera. „Der Bericht macht deutlich, dass diese Transformation eingeleitet wird, allerdings zu langsam.“ In das Abkommen von Paris solle daher gleich einen Mechanismus eingebaut werden, die nationalen Pläne in Zukunft zu verschärfen.

Christopher Schrader, 26. Oktober 2015

Ergänzung, 30.10.2015: Malte Meinshausen hat neben seiner Stelle in Melbourne auch seine Verbindung zum PIK behalten.

 

Die Goldlöckchen-Temperatur

21.10.2015

Zusammenfassung: Eine Analyse von 166 Ländern zeigt, wie ihre Wirtschaft vermutlich auf den Klimawandel reagieren wird. Entscheidend ist dabei nicht, wie groß das Nationaleinkommen ist, sondern wie hoch die jährliche Durchschnittstemperatur liegt. Jenseits von 13 Grad Celsius bringt die globale Erwärmung auch reichen Nationen Verluste.

In Russland, Skandinavien oder Kanada können sich die Menschen eigentlich auf den Klimawandel freuen: Er dürfte ihnen großes Wirtschaftswachstum bringen. Viele Studien zeigen, wie Landstriche im Hohen Norden mit der globalen Erwärmung freundlichere Temperaturen erreichen, die verstärkte Agrarwirtschaft und generell eine intensivere Nutzung der Ressourcen und Bodenschätze erlauben. Die Schäden an der bisherigen Infrastruktur, die etwa in den sibirischen Weiten  im aufgeweichten Permafrostboden versinkt, bremsen den Aufschwung nur ein wenig. Wo eine neue Wirtschaftszone entsteht, lassen sich die Kosten für den Neubau einer Straße verschmerzen.

Doch solche Vorteile werden vermutlich nur wenige Staaten der Erde erleben. Drei Ökonomen aus Kalifornien haben jetzt ein verblüffend einfaches Kriterium dafür berechnet, wer dazu gehört: Wenn die jährliche Durchschnitts-Temperatur eines Landes bei bis zu 13 Grad Celsius liegt, kann es mindestens zunächst vom Klimawandel profitieren. Ist sie höher, dürfte der globale Wandel den Staat Wachstumsprozente kosten; bei den ärmsten Ländern in den heißesten Regionen kann es sogar zu einem Schrumpfen der Wirtschaft führen. „Die Reaktion der reichen Länder ist dabei sehr ähnlich wie die der armen“, schreibt Marshall Burke von der Stanford University, einer der drei Forscher, in einer E-Mail. Seine Kollegen Solomon Hsiang und Edward Miguel kommen von der UC Berkeley auf der gegenüberliegenden Seite der San Francisco Bay. „Der wichtigste Unterschied zwischen den Ländern“, so Burke, „ist ihre Durchschnittstemperatur, nicht ihr Durchschnittseinkommen.“

Wie sich die Welt nach dem 13-Grad-Kriterium in Gewinner und Verlierer aufteilt, zeigt eine Karte in dem Forschungsaufsatz der drei Ökonomen, der in Nature erschienen ist (online; doi: 10.1038/nature15725). Demnach dürfte es Vorteile auch für große Teile Europas geben (die deutsche jährliche Durchschnittstemperatur zum Beispiel hat 2014 zum ersten Mal die 10-Grad-Marke überstiegen). Sonst aber profitiert kaum ein Land, auf längere Sicht nicht einmal Wirtschafts-Supermächte wie die USA oder China, die beide heute schon nahe an der Idealtemperatur von 13 Grad Celsius liegen (die USA hatten in ihrem Rekordjahr 2012 eine Mitteltemperatur von 12,9 Grad; 2014 waren es 11,4 Grad).

GoldilocksTempEconCC_Fig4aDie Grafik zeigt, wie sich das Nationaleinkommen pro Kopf der Bevölkerung bis 2100 verändert, wenn zur angenommenen wirtschaftlichen Entwicklung ein ungebremster Klimawandel hinzukommt (IPCC-Szenario RCP8.5). Blautöne bedeuten ein Profitieren
vom Klimawandel, in rosa und rot gefärbten Ländern kostet die Erwärmung wirtschaftliches Wachstum.
Quelle: Burke et al: Global non-linear effect of temperature on economic production;
Nature online, doi: 10.1038/nature15725; Figure 4a

Wenn man es etwas poetischer mag, kann man diese 13 Grad Celsius als die Goldlöckchen-Temperatur der globalen Wirtschaft bezeichnen (die Nature-Pressestelle tut dies in ihrer Pressemitteilung). Goldlöckchen ist eine Märchenfigur, ein kleines Mädchen, das in das Haus der Familie Bär im Wald eindringt und dort drei Schüsseln Brei probiert: Die erste ist zu heiß, die zweite zu kalt, die dritte genau richtig.

Insgesamt wird der Klimawandel für die globale Wirtschaft damit zu einem Verlustgeschäft. Schreitet die Erwärmung ungebremst fort, dann ist mit einer globalen Erwärmung von vier Grad gegenüber der Zeit vor der Industrialisierung zu rechnen. Laut Burke und seinen Kollegen bleiben die durchschnittlichen globalen Einkommen dann um 23 Prozent hinter dem Wert zurück, der durch das angenommene Wirtschaftswachstum und ohne Erwärmung bis 2100 zu erreichen wäre.

Zudem könnte sich nach dieser Berechnung die Ungleichheit auf der Welt deutlich vergrößern. Ganze Regionen wie Afrika südlich der Sahara oder Südostasien könnte die globale Erwärmung fast das gesamte Wachstum kosten, das in diesem Jahrhundert noch zu erwarten ist. Und mindestens fünf Prozent der Staaten dürften 2100 sogar ärmer sein als heute. In dem Paper schreiben die drei Ökonomen: „Nach unserer Schätzung wird sich das durchschnittliche Einkommen der 40 Prozent ärmsten Länder bis 2100 um 75 Prozent gegenüber einer Welt ohne Klimawandel verringern, während die reichsten 20 Prozent leichte Gewinne erleben, weil sie im Allgemeinen kühler sind.“

Mit diesem letzten Halbsatz spricht das Team einen erwartbaren Einwand gegen ihre Studie aus: Reiche und arme Staaten sind auf der Welt nicht gleichmäßig verteilt. Die klassischen Industrieländer in Europa sowie die USA und Japan liegen in gemäßigten Klimazonen, die ärmsten Entwicklungsländer aber in einem breiten Gürtel um den Äquator. Über die Frage, warum das so ist, kann man lange und ideologische Debatten führen, die Stichworte wie protestantische Arbeitsethik oder Imperialismus enthalten. Jedenfalls ist der Abstand zwischen den Ländergruppen und Regionen im 19. und 20. Jahrhundert gewachsen, zeigen ökonomische Analysen. Die reichen Länder sind den ärmeren davongezogen. Es wäre also ziemlich einfach für das Burke-Team gewesen, in der Berechnung einen massiven Fehler zu machen.

Über diesen Fallstrick zu stolpern, haben die Ökonomen vermieden, indem sie die Staaten nicht miteinander, sondern immer nur mit sich selbst verglichen haben. Jedes der 166 Länder hat in dem untersuchten Zeitraum 1960 bis 2010 schließlich wärmere und kühlere Jahre erlebt, die die Forscher mit den jeweiligen Wirtschaftsdaten vergleichen konnten. Dabei haben sie die Effekte von Wirtschaftskrisen und plötzlich veränderter Wirtschaftspolitik herausgerechnet. Übrig blieben Grafiken für jedes Land, aus denen die Forscher die lokale Steigung ihrer globalen Wachstum-Temperatur-Relation bestimmt haben.

GoldilocksTempEconCC_FigED1a-fDie globale Kurve, wie das Wirtschaftswachstum mit der Temperatur zusammenhängt,
besteht aus lauter einzelnen Zahlenwerten, die für individuelle Länder bestimmt wurden
(die schwarze Linie zeigt jeweils eine lineare Approximation, der graue Bereich das
95-Prozent-Konfindenzintervall). Hier beispielhaft fünf Staaten.
Quelle: Burke et al: Global non-linear effect of temperature on economic production;
Nature online, doi: 10.1038/nature15725; Extended Data Figure 1a-f

Burke und seine Kollegen beschreiben das Verfahren so:
In an ideal experiment, we would compare two identical countries, warm the temperature of one and compare its economic output to the other. In practice, we can approximate this experiment by comparing a country to itself in years when it is exposed to warmer- versus cooler-than-average temperatures due to naturally occurring stochastic atmospheric changes.

Da sie also keine Experimente machen können, in denen sie eines von zwei identischen Ländern erwärmen und das andere nicht, ist dieser Vergleich der Staaten mit sich selbst eine vernünftige Methode. Das bestätigt der Autor eines begleitenden Kommentars in Nature, Thomas Sterner von der Universität Göteborg in Schweden: Gegenüber früheren Studien ähnlicher Art nutzten die kalifornischen Kollegen einen „anderen (und ich glaube verbesserten) Ansatz, mit Störvariablen umzugehen“. Und: „Die Autoren geben sich viel Mühe, die Robustheit ihrer Ergebnisse zu überprüfen, aber es wird zweifellos Versuche geben, nach anderen Daten und Ansätzen zu suchen, die abweichende Resultate erbringen könnten. So funktioniert der wissenschaftliche Fortschritt.“ Das neue Verfahren muss sich also noch bewähren.

Ähnlich sieht es Sabine Fuss vom Mercator-Institut für globales Gemeingut und Klimawandel in Berlin. „Das Paper ist klar und einleuchtend und enthält keinen methodischen Faux-Pas.“ Schon bei den kommenden Verhandlungen des Klimagipfels in Paris müsse man die möglichen Verluste durch den Klimawandel nun ganz anders bewerten. „Die Ergebnisse bedeuten nämlich auch, dass durch den ungebremsten Klimawandel global noch mehr umverteilt wird als bisher gedacht. Dieser wegweisende Artikel wird sicher die Basis für weitere Forschung in diese Richtung sein.“

Die Analyse von Marshall Burke und seinen Kollegen ist selbst ein Angriff auf die vorherrschende Meinung in der Ökonomie. Dass arme Länder wirtschaftliche Verluste durch den Klimawandel erleiden, ist schließlich kein wirklich neuer Gedanke. Aber bisherige Modelle nahmen an, dass reiche Länder wegen ihrer größeren Ressourcen und des einfachen Zugangs zu Technologie die Effekte einfach wegstecken. Die Folgen des Klimawandels würden demnach auch für all jene Länder immer geringer ausfallen, deren Wohlstand wächst, weil ihnen eine wirtschaftliche Entwicklung gelingt.

Die kalifornischen Ökonomen stellen das als falsche Interpretation dar: „Wir können nicht annehmen, dass reiche Länder von der künftigen Erwärmung unberührt bleiben, oder dass sich Konsequenzen der Erwärmung mit der Zeit abschwächen, wenn Länder wohlhabender werden.“ Staaten im Nahen Osten zum Beispiel sind schon heute deutlich über der 13-Grad-Schwelle und würden demnach wirtschaftlich unter dem Klimawandel leiden. Das gilt vermutlich auch für China, Japan und die USA, wenn sie die Erwärmung über den Gipfel der Kurve auf den absteigenden Ast treibt.

Dies alles setzt mehr oder weniger stillschweigend voraus, dass sich aus der Vergangenheit etwas für die Zukunft lernen lässt. Sollten Länder im Klimawandel plötzlich eine radikale Veränderung ihrer Wirtschaftsweise einleiten, wäre diese Annahme natürlich gefährdet. „Anpassungsmaßnahmen wie beispiellose Innovation oder defensive Investition könnten die errechneten Effekte reduzieren, aber soziale Konflikte oder gestörte Handelsbeziehungen sie auch verstärken“, heißt es in dem Nature-Paper.

Die Erkenntnis, dass selbst reiche Länder wirtschaftlichen Risken unterliegen, sollte auch politische Folgen haben, sagt Thomas Sterner. In vielen Staaten, vor allem in den USA wird schließlich heftig um den Begriff „Social costs of Carbon“ (also die sozialen Kosten der Kohlendioxid-Emissionen) gerungen. Sie könnten dazu dienen, einen vernünftigen Preis für den Ausstoß von Treibhausgasen zu definieren. Dem Burke-Ansatz zufolge müssten solche Kosten in Zukunft ganz anders und viel höher kalkuliert werden, so Sterner: „Ich habe das Gefühl, wir beginnen gerade erst zu verstehen, wie viel Schaden der Klimawandel anrichten kann.“
Christopher Schrader, alle Rechte vorbehalten

P.S.: Hsiang und Burke haben 2013 auch über die mögliche Zunahme von Gewalt mit der globalen Erwärmung geschrieben. Auch das war damals überraschend und kontrovers.

Ergänzung am 23.10.2015

Der Absatz mit den Kommentaren von Sabine Fuss vom Mercator-Institut wurde nachträglich eingefügt. Über das Thema berichten nun auch FAZ und Guardian.